Wenn der Mainstream der Donaustrom ist – dann ist Grunge der Donaukanal. So war es treffend, dass das 23. Kurt Cobain Tribute – letztes Jahr noch im Fluc – heuer im Wiener Donaukanallokal Flex stattfand. So wie der Seattler Underground einst im kleinen Rahmen zusammenkam, um zu feiern und sich musikalisch und politisch auszutauschen, kamen auch acht österreichische Bands des Wiener Untergrunds im Rahmen des Flex zusammen. Und gedachten und feierten ihre an die Speerspitze der Seattler Bewegung katapultierte und am 5. April 1994 verstorbene Legende. Sie kanalisierten ihre Trauer in einen, von verzerrter Stromgitarre geprägten, rauschenden Spielfluss mitreißender Nirvana-Songs.
„Come as you are“ war auch heuer das Motto und alle waren sie an diesem wolkenverhangenen Apriltag gekommen, vom Schottenring hinunter zum Wiener Donaukanal, der wie immer zwischen den Graffitiwänden im kargen Asphaltbett seiner trübsinnigen Traurigkeit, umglitzert von den schillernden Stadtlichtern, dahinfloss. Einige standen vor Beginn unten am Treppenasphalt und weinten trübselige Tränen der Trauer in den Kanal. Einem Abend der Legendenandacht im Flanellhemd mit stark verzerrten Gitarren stand nichts im Wege.
8 Bands und Künstler – Pyrite, Eloui, Extremhirsch, Everyone’s Prostitute, I’m a Sloth, The Black Bones, Bulbul und Naplava – interpretierten die Nirvana-Songs. Die Reihenfolge der Acts brachte einen Spannungsbogen mit sich, der von Pop über Grunge bis hin zu noch härterer Kost reichte. Die stark verzerrten Gitarren des Seattle-Sounds blieben demzufolge bei den ersten Acte stumm.
Drei Frauen und ein Mann – Ziehharmonika, Geige, Bass und Schlagzeug – die Band Pyrite – betrat unscheinbar die Bühne und eröffnete den Abend mit dem Song Dumb vom Album In Utero. Sie spielten die Nirvana-Songs in ihrem ganz eigenen Stil – „from trashpop to krautroulette“ – wie sie ihn humorvoll nennen. Eine wilde Mischung, die aber funktionierte und auch das Publikum mit Love Buzz, Been a Son, Aneurysm und Molly’s Lips mehr und mehr überzeugte. Wien hat also im weitesten Sinne auch eine Krautrock-Band.
In den Pausen zwischen den Auftritten wurde von den Organisatoren David Jerina und David Hebenstreit aka Sir Tralala die Tombola angerührt. Das Duo las die Gewinnloszahlen vor und unterhielt stets auf humorvolle Art und Weise.
Extremhirsch, bürgerlich Ludwig Hirsch bestreitet heuer sein 25. Bühnenjubiläum als Extremhirsch. Das Unikat betrat desolat die Bühne – in einem offenen weißen Flannellhemd gekleidet, offerierte den ersten Publikumsreihen großzügig seine umfangreiche BH-Sammlung.
Mit Band spielte er eine österreichische Version von Where did you sleep Last Night. Über das „kalte Wien“ und das „warten auf di mein Kind“. Das Publikum war von der Musikalität des Herrn überrascht und beeindruckt davon, wie er die einsamen Melodien nur so aus dem Flannellärmel schüttelte.
Ihm war hiermit nach dem schrägen Einstieg dann doch der Flannellhemdsknopf aufgegangen, wenngleich man wohl behaupten könne, dass dieser, sowie alle anderen Knöpfe des Hemds, schon beim Bühneneinstieg offen gewesen waren.
Beim nächsten Act, dem ersten echten Grunge-Act, Everyone’s Prostitute spürte man auch erstmals am Abend so richtig die in die furiose Spielwut donaukanalisierte Legendentrauer. Everyone’s Prostitute sangen u.a. School, Negativ Creep, Rape me, Drain You, Territorial Pissings und dankten in einem orkanartigen Blitzgewitter ab.
Nach einer Pause ging es mit der zweiten Hälfte des Programms weiter. Die Fixgröße im heimischen Grunge – I’m a Sloth – sind auf dessen punkiger Seite zu verorten, spielten schon letztes Jahr beim Cobain-Tribute und hatten schon die Ehre die Gründerväter des Seattle-Sounds Mudhoney 2016 in der Szene Wien zu supporten. Sie veröffentlichen nach Satisfashion 2012 diesen Juni ihr zweites Album Bosom.
Der in den Bann ziehende Doppelgesang des Gitarristen Bernhard Drexlers und Bassistin Flora Ska erinnerte natürlich an die Pixies, und hebt die Band von vielen anderen ab. Drexler übte sich mit einer enormen Bühnenpräsenz über die Bühne schwankend im kontrollierten Kontrollverlust über die Gitarre und des kontrollierten Kontrollverlustes über das Gitarrensolo, bis dieser kontrollierte Kontrollverlust unkontrollierbar wurde und die Gitarre entglitt, der Gitarrengurt riss.
Der Doppelgesang wurde in der aufsteigenden Melodie im Pre-Chorus von In Bloom zu einer übernatürlichen Woge, die im Refrain ihre ganze Kraft entfaltete. Drexler zerschmetterte zum Abschluss eine der beiden Gitarren in Pete Townsend/Kurt Cobain-Manier und setzte dem Auftritt damit die glorreiche Rock’n’Roll-Krone auf.
The Black Bones, ganz in schwarz, brechen in ihren Eigenkompositionen den Rock bis aufs knochige Grundgerüst einer Drei-Mann Band hinunter. Und lieferten ein kompromisslos gutes Nirvana-Coverset ab. Sie spielten Breed, Drain You, Aneurysm, Sliver, Stay away, Sappy und On a Plain.
https://www.youtube.com/watch?v=QD0D7IuriWQ
Bulbul setzen auf markige Albumtitel wie „Hirn fein hacken“, und bringen so den Zynismus Nirvanas messerscharf wie klingenfein auf den Punkt. Sie gaben Breed, In Bloom und Smells Like Teen Spirit mit kettensägender Gitarre, grummeligem Bass und wuchtigem Schlagzeug zum Besten. Besonders gut tat es diese Songs des von Butch Vig radiofreundlich produzierten Albums Nevermind, in voller ohrendurchtrommelnder Schlagzeugwucht zu hören. Wie es auch beim weniger polierten Steve Albini-produzierten Nachfogealbum In Utero der Fall war, der darauf setzte den Sound einer live im Studio spielenden Band einzufangen.
Der unumstrittene Höhepunkt des Abends: Sänger und Gitarrist von Bulbul – Manfred Engelmayr – wirft das Mikrofon für die letzte Strophe und Refrain in von Smells like Teen Spirit in den Moshpit. Die wilde Masse gröhlt die Generationshymne lauthals ins Mikrofon. Publikum, Song und Band werden eins – pure Gänsehaut und ein Moment der Unsterblichkeit. Der Underground lebt und bebt. Engelmayr zieht den immortalen Moment noch in die Länge, zieht seine Gitarrengriffe noch durch sämtliche Effektpedale.
Mit dem maximalen Verzerrungs- und Härtegrad rundete an diesem Abend die letzte Band Naplava, die um Mitternacht aufspielten, den Abend ab. Das Dreiergespann zweier Gitarristen und eines Schlagzeugers agiert mit ordentlich hinuntergestimmten Gitarren, die einen Bassisten obsolet machen, bewegen sich in ihren Eigenkompositionen zwischen Stoner, Doom, Sludge und Heavy Rock und zelebrierten ebenfalls die Zerstörung ihrer Musikinstrumente.
Es wurde einmal mehr klar: Nirvana begeistern heute noch Generationen – auch in ihrer Tiefgründigkeit – sie sind mehr als bloß ein vermarktetes Produkt. Er lebte und bebte, brütete und wütete – der Untergrund im Flex – wie einst der Underground in Seattle. Es wurde gemosht, es wurden Gitarren zerstört. Es war laut.
Es war eine laute Zusammenkunft derer, die gekommen waren, wie sie sind, um aus der jährlich am 5. April nachhallenden Vergangenheit eine präsente, lärmende Gegenwart zu machen.
Gegen Ende des Abends saßen noch einige Silhouetten im Dunkel am Treppenasphalt und weinten trockene Tränen des Trosts in den Donaukanal. Während Naplava den Abend in krönender Lautstärke zuendelärmten und ihre Instrumente fertigzerstörten.
Mögen im zukünftigen Jahr wieder alle kommen, wie sie sind, waren und immer sein werden.
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Everyone’s Prostitute
David Hebenstreit aka. Sir Tralala
Gitarrenmusik und Konzertskizzen