Ein auf Eis gelegtes Musikmedium erlebt seinen zweiten Frühling
Die Welt ist eine Scheibe
Der Zustand der Musikindustrie gleicht einem Scherbenbild. Zerbrochene CD-Hüllen, zerkratzte und zersplitterte CDs liegen regungslos am Wegrand. Wohin der Weg führt weiß keiner. Mp3 Dateien tönen friedlich durch die Lüfte. Weiter abseits dieses Weges liegt ein Friedhof. Auf diesem Friedhof steigt eine Party. Eine Retro-Party. Totgesagte leben bekanntlich länger. Ca. 20 Jahre ist es her, da wurde sie für tot erklärt, die Produktion großteils eingestellt. Ich spreche von der Schallplatte.
Während die CD-Verkaufszahlen kontinuierlich sinken feiert dieses lange totgeglaubte Medium sein Comeback. In Deutschland wurden 2011 so viele Platten verkauft, wie seit über 17 Jahren nicht mehr. Und laut Marktforschungsunternehmen Nielsen stiegen die Verkäufe 2012 in den USA um 16,3% auf 4,7 Millionen Platten und damit zum sechsten Mal in Folge. Doch woran liegt das?
Haptisches Erlebnis
Der Leiter der Popakademie Baden-Württemberg, Hubert Wandjo, begründete es im Focus mit einem zunehmenden Überdruss am Digitalen. „Viele Menschen haben wieder mehr Freude am haptischen Erlebnis, also an Dingen, die sie anfassen und wirklich besitzen können“. Dieses Erlebnis ist im Downloadzeitalter verloren gegangen. Dem Gang zum Musikgeschäft und zurück, voller Vorfreude das Album in Händen zu halten und zu Hause endlich entpacken zu können, stehen ein paar mickrige Klicks im Internet gegenüber.
Auch ein CD-Kauf mag sich lohnen, jedoch bietet hier die Schallplatte eindeutige Vorteile. Es fühlt sich schlicht an als hätte man mehr gekauft, man bekäme mehr für sein Geld. Denn der Unterschied zur CD ist spür- und greifbar. Ein Schallplattencover ist mehr als doppelt so groß wie ein CD-Cover, was dem Cover-Artwork mehr Bedeutung verleiht. Der Unterschied fällt besonders bei imposanten Covern wie London Calling von The Clash oder Daydream Nation von Sonic Youth ins Gewicht. Andere Cover wie Sgt.Peppers Lonely Heartsclubband von den Beatles sind etwas Spezielles und wären als CD Cover so nie designt worden, man könnte schlicht die Gesichter nicht richtig deutlich genug erkennen.
Bewusstes Musikhören
Natürlich sei die CD kleiner und daher praktischer zu handhaben, man solle aber ohnehin in unserer fortgeschrittenen Gesellschaft in der alles schneller und praktischer ablaufen muss, Musik als ein bewusstes Hören und Erleben praktizieren, nicht nebenbei im Auto hören und schon gar nicht nebenbei “Nasenbohrn oder Sudoku machen”, bringt es Herr Professor R. in seiner typischen Art auf den Punkt.
Zu diesem bewussten Erleben der Musik gehört auch die „Auflegezeremonie“ der Schallplatte. Während bei der CD simpel auf Knöpfe gedrückt wird, welche dann die Arbeit erledigen, ist der Ablauf bei der Schallplatte manueller. Sie wird vorsichtig aus der Hülle gezogen, die Seite identifiziert, sachte aufgelegt, der grazile Tonarm langsam an die richtige Stelle geschwenkt, die filigrane Abtastnadel vorsichtig in die Einlaufrille abgesenkt. Und dann wird aufgeregt erwartet wann die Musik einsetzt.
Klang
Und die Musik, die dann aus den Boxen schallt und einen freudigen Seufzer auslöst, klingt, ein guter Plattenspieler vorrausgesetzt, wärmer und weicher als die einer CD. Die CD hat eine „kalte Präzision“, ist „frontal“ und „klescht“, meint R. Der Grund: Der Unterschied zwischen analoger und digitaler Wiedergabe. Während digital (CD) lediglich punktuelle Samplings einer Frequenzwelle aufnimmt, bietet analog (Schallplatte) die gesamte ununterbrochene Wiedergabe der Frequenz. Hierauf fußen die Streitereien unter den Audiophilen. Eine CD klingt in der Regel klar, eine Schallplatte jedoch voller und wärmer. Was wiederum die Frage aufwirft, warum, neben dem Aspekt der schlechteren Handhabbarkeit, die Produktion der Schallplatte zurückgeschraubt worden war. Mit dem technischen Fortschritt sei die Weichheit im Klang verloren gegangen, meint Herr Prof. Rosner und meinen viele andere auch.
Geldmacherei
Die Art wie mit diesem technischem Fortschritt umgegangen wurde, sei pure Geldmacherei gewesen, findet er, meines Erachtens nach richtigerweise. Man hat die Schallplatte auszurotten versucht, Anfang der 90er den Tod der Schallplatte ausgerufen. Die Einsicht der Industrie, dass dies ein kapitaler kapitalistischer Schnellschuss war kommt spät. Heute stehen sogar in einer der größten Elektronikhandelsketten Österreichs wieder Schallplatten. Spezialisierte kleine Geschäfte wie Recordbag, Substance und Rave Up Records verzeichnen steigende Umsätze. Und es werden täglich neue gepresst.
Zukunftsmusik
Die Situation lässt sich sehr gut mit der der E-Books und Bücher vergleichen. Während der technische Fortschritt weiter und weiter vorangeht werden Schallplatten, genauso wie Bücher nie aussterben, zu groß ist die Kraft der Musikliebhaber und die der DJs, die das Medium über die 90er-Jahre hinweg erhalten haben, bzw. der Leser, die beim Lesen noch das Papier zwischen den Fingern spüren wollen.
Ein erfolgreiches Verkaufsmodell, das beweist, dass man trotzdem die Zeichen der Zeit erkannt hat, sind Schallplatten mit beigelegtem Coupon zum kostenlosen digitalen Download in der höchsten Mp3-Qualität oder auch im FLAC-Format (Free Lossless Audio Codec). Dieses Modell hat langfristig gesehen sicherlich große Überlebenschancen. Doch kann man das von der CD behaupten? Viele Fragen brennen auf der Zunge. Wie werden sich Streamingdienste wie Spotify entwickeln? Und wie sieht im Allgemeinen das Musikhören, -kaufen und -erleben der Zukunft aus?
Vor rund 50 Jahren bekam unser Musikprofessor seine erste Schallplatte, Klavierkonzert #1 in B-Moll von P.I.Tschaikovski. Diese funktioniere immer noch, erzählt er stolz. Wohin der anfangs beschriebene Weg der Industrie auch führt, eine Nachfrage wird es immer geben. Denn Schallplatten sind unsterblich, still wird es um sie nie.